Computerchips im Gehirn: Potenzial für die Behandlung neuronaler Erkrankungen, Gehirnchips

Computerchips im Gehirn: Potenzial für die Behandlung neuronaler Erkrankungen

Computerchips, die direkt im Gehirn arbeiten, galten lange als Science-Fiction. Doch in den letzten Jahren rückt diese Vision in greifbare Nähe. Neuartige Hirn-Computer-Schnittstellen – implantierte Computerchips im Gehirn – sollen verloren gegangene Funktionen ersetzen oder neurologische Erkrankungen lindern. Diese Technologie verspricht etwa, Gelähmten Bewegung oder Kommunikation zurückzugeben und Sinnesverlust wie Blindheit zu kompensieren. Trotz ersten klinischen Erfolgen stehen Forscher noch am Anfang.

Aktueller Stand der Technik

Bestehende medizinische Hirnimplantate: Bereits seit Jahrzehnten werden einfache Hirnimplantate in der Medizin eingesetzt. Ein Beispiel ist die Tiefe Hirnstimulation (THS) bei Parkinson: Elektroden im Gehirn können durch kontinuierliche Impulse das Zittern und andere Symptome lindern, was heute bei Parkinson-Patienten im Spätstadium beinahe zum Standard gehört (sog. Deep Brain Stimulation). Ähnliche Stimulations-Implantate werden experimentell auch bei schwerer Depression eingesetzt, wenn Medikamente versagen. Zudem gibt es Neurostimulatoren für Epilepsie, die Anfallsaktivität erkennen und frühzeitig gegensteuern – sie können Patienten sogar vor bevorstehenden Anfällen warnen und so lebensgefährliche Situationen vermeiden. Auch Sinnesprothesen wie Cochlea-Implantate (für Gehörlose) sind etablierte Neuro-Implantate. Diese frühen Anwendungen zeigen, dass Technik im Gehirn prinzipiell funktionieren kann und bereits etlichen Patienten geholfen hat.

Neuste Entwicklungen – von Forschung zu ersten klinischen Studien: Seit etwa 2016 treibt eine neue Generation von Neurotechnologie-Startups die Entwicklung komplexerer Gehirnchips voran. Im Fokus stehen Brain-Computer Interfaces (BCIs), die Nervenzellen anzapfen und Signale drahtlos an Computer übertragen – und teils umgekehrt. Ein prominentes Beispiel ist Elon Musks Firma Neuralink, die Ende 2023 erstmals einem menschlichen Patienten einen kabellosen Hirnchip implantierte. Das nur münzgroße Implantat mit 1.024 feinen Elektroden wurde bei einem querschnittsgelähmten Patienten unter die Schädeldecke eingesetzt. Ziel dieser laufenden klinischen Studie ist es, Tetraplegikern (Gelähmten aller vier Gliedmaßen) zu ermöglichen, allein durch Gedanken elektronische Geräte zu steuern. Konkret sollen solche Patienten z.B. einen Computer-Cursor bewegen oder ein Smartphone bedienen können, indem das Implantat die Absicht einer Bewegung im motorischen Gehirnareal erkennt. Neuralink erhielt dafür 2023 von der US-Arzneimittelbehörde FDA grünes Licht für erste klinische Tests am Menschen. Die Technologie basiert auf jahrelanger Tierversuchsforschung und baut auf Erkenntnissen auf, die schon Anfang der 2000er erzielt wurden (etwa Affen, die mittels Hirnelektroden einen Mauszeiger steuerten). Neuralink ist jedoch das bisher komplexeste System dieser Art und kombiniert viele bekannte Ansätze in einem Gerät. Erste Erfolge wurden bereits öffentlich demonstriert – so konnte der genannte Patient einige Monate nach Implantation allein mit seinen Gedanken auf einem Laptop Online-Schach spielen, wobei der Mauszeiger mental gesteuert wurde (Live-Demonstration im März 2024).

Führende Projekte und Unternehmen: Neuralink ist nicht allein auf diesem Gebiet. Mehrere Unternehmen und Forschungsteams arbeiten an Hirnchips mit unterschiedlichen Ansätzen. So entwickelt die US-Firma Precision Neuroscience ein flexibles Implantat, das über einen minimal-invasiven Schnitt in der Schädeldecke eingeführt und wie eine Folie auf der Hirnoberfläche ausgebreitet wird – ebenfalls mit rund 1.000 Elektroden. Das Startup Synchron aus Australien/USA verfolgt einen noch weniger invasiven Weg: Es platziert seinen Elektroden-Chip mittels Katheter über Blutgefäße im Gehirn, sodass keine offene Schädeloperation nötig ist. Synchron implantierte 2022 erstmals einen solchen BCI-Chip bei einem Menschen und ermöglichte ihm, durch Gedanken Texte zu schreiben und Technologien zu bedienen. Auch in Europa gibt es bahnbrechende Projekte: 2019 stellte etwa das französische Clinatec-Institut ein Hirnimplantat vor, mit dem Querschnittsgelähmte ein Exoskelett steuern und dadurch Arme und Beine bewegen können. Ein anderes spektakuläres Beispiel lieferte 2023 ein Schweizer Forschungsteam: Sie kombinierten einen Hirnchip mit einem implantierten Stimulator im Rückenmark, sodass ein seit Jahren gelähmter Patient namens Gert-Jan O. mithilfe dieser Gehirn-zu-Rückenmark-Überbrückung wieder stehen und einige Schritte gehen konnte. Dieses System dekodiert die Gehabsicht im Gehirn und leitet die Signale in Echtzeit an das Rückenmark weiter, wo die Beinbewegung ausgelöst wird. Solche Ergebnisse zeigen das enorme Potenzial der Technologie, sind bislang aber Einzelfälle in Forschungsumgebungen. Neben Universitäten mischen auch große Tech-Investoren mit: So wurde 2020 in Europa das Startup INBRAIN Neuroelectronics gegründet, das einen neuartigen Graphen-basierten Hirnchip entwickelt. Graphen als Material ist extrem dünn, flexibel und leitfähig – ideal für biokompatible Elektroden. INBRAINs Chip erhielt von der FDA den Status eines “Breakthrough Device” für ein beschleunigtes Zulassungsverfahren. Erste klinische Studien mit Graphen-Implantaten sollen in Kürze starten.

Anwendungsmöglichkeiten bei neurologischen Erkrankungen

Die primären Ziele dieser Hirnchip-Technologien liegen im medizinischen Bereich. Lähmungen überwinden: Einen großen Hoffnungsträger stellen BCIs für Patienten mit Querschnittlähmung dar. Indem motorische Signale direkt aus dem Hirn ausgelesen werden, können Gelähmte damit z.B. Computer, Rollstühle oder Prothesen steuern. Im günstigen Fall lassen sich sogar verlorene Bewegungsfunktionen teilweise wiederherstellen – wie im erwähnten Fall von Gert-Jan O., der dank Gehirnimplantat und Rückenmarks-Stimulator wieder selbstständig Schritte machen konnte. Zwar ist eine vollständige Heilung einer Lähmung damit noch nicht erreicht, aber solche Neuroimplantate könnten in Zukunft vielen querschnittsgelähmten Menschen erheblich mehr Autonomie geben.

Kommunikation und Alltag bei Locked-in-Patienten: Ähnliche Implantate können auch eingesetzt werden, um Kommunikation durch Gedanken zu ermöglichen. Patienten, die bei vollem Bewusstsein aber körperlich fast vollständig gelähmt sind (Locked-in-Syndrom), könnten über ein Gehirnchip-System einen Cursor bewegen, Texte schreiben oder Geräte bedienen, indem das Implantat ihre beabsichtigten Hand- oder Sprachbewegungen erkennt. Aktuelle Studien konzentrieren sich darauf, solchen Patienten das Schreiben von Texten oder sogar das Sprechen durch einen Sprachsynthesizer zu ermöglichen – allein gesteuert durch Hirnsignale. Erste Durchbrüche wurden 2023 gemeldet, als Hirnimplantate in Kombination mit KI-Algorithmen bei einzelnen Probanden in der Lage waren, gesprochene Sätze in Echtzeit aus der Hirnaktivität zu dekodieren. In den kommenden Jahren könnten solche Kommunikations-BCIs vielen vollständig Gelähmten helfen, sich wieder mitzuteilen.

Bewegungsstörungen und neurologische Erkrankungen: Patienten mit Parkinson oder anderen Tremor-Erkrankungen profitieren bereits von implantierten Hirnstimulatoren, die kontinuierlich bestimmte Hirnareale stimulieren und so Zittern und Steifheit reduzieren. Künftige Chips gehen einen Schritt weiter: Dank fortschrittlicher Sensorik und KI könnten sie abnormale neuronale Muster erkennen und gezielt Gegenreize in Echtzeit liefern. So entwickelt INBRAIN einen Graphen-basierten Neurochip, der die gestörten Signalschaltungen bei Parkinson identifiziert und durch mikroelektrische Impulse die Symptome unmittelbar unterdrückt. Solche intelligenten Hirnschrittmacher hätten großes Potenzial, motorische Symptome nicht nur zu lindern, sondern dynamisch zu kontrollieren, je nach Bedarf des Patienten.

Sinne wiederherstellen: Ein weiteres Feld ist die Kompensation von verlorenen Sinnesfunktionen. Bei Blindheit beispielsweise wird erforscht, ob ein visuelles Implantat die Funktion der beschädigten Sehrinde übernehmen kann. Die Idee: Eine Kamera speist Bildinformationen in einen Gehirnchip ein, der diese in neuronale Signale „übersetzt“. Erste Versuche haben gezeigt, dass damit rudimentäres Sehen erzeugt werden kann. In klinischen Studien konnten vollkommen blinde Probanden durch ein visuelles Cortex-Implantat einfache Lichtmuster und Umrisse wahrnehmen. Auch wenn die Auflösung noch gering ist, weckt dies Hoffnung, dass in Zukunft einige Blinde durch Gehirnchips zumindest ein einfaches visuelles Wahrnehmungsvermögen zurückerlangen. Ähnlich arbeiten Forscher an Hörimplantaten im Hirnstamm für Fälle, in denen das übliche Cochlea-Implantat nicht greift.

Epilepsie und andere neurologische Leiden: Wie erwähnt, kommen Hirnchips bereits bei Epilepsie zum Einsatz. Moderne Systeme können die elektrische Hirnaktivität rund um die Uhr überwachen und vor einem drohenden epileptischen Anfall warnen. Einige Implantate gehen noch weiter und stimulieren das Gehirn unmittelbar, um einen beginnenden Anfall zu unterbrechen. Solche geschlossen-regelnden Systeme („closed-loop“) könnten auch bei anderen Erkrankungen helfen. In Studien wird z.B. erprobt, ob Hirnimplantate bei schweren Zwangsstörungen oder Depressionen die krankhaften Muster erkennen und gezielt gegensteuern können. Ebenso gibt es visionäre Ansätze, Gedächtnisfunktionen durch Chips zu unterstützen, was eines Tages Patienten mit Demenz oder Alzheimer zugutekommen könnte – noch ist dies allerdings im Forschungsstadium. Insgesamt sind die Anwendungsmöglichkeiten breit: Von Bewegungs- und Sinnesprothesen über neuropsychiatrische Therapien bis hin zu Brain-Computer-Interfaces, die Patienten wieder in Kontakt mit ihrer Umwelt bringen.

Technische Herausforderungen

Trotz aller Fortschritte stehen Ingenieure und Neurowissenschaftler vor großen technischen Hürden. Ein zentrales Problem ist die Biokompatibilität: Ein Chip im empfindlichen Gehirngewebe ist ein Fremdkörper. Der Körper reagiert darauf mit Immunabwehr, Entzündungen oder Narbengewebe-Bildung, die die Elektroden mit der Zeit isolieren können. Dieses Phänomen der Abkapselung kann die Signalqualität verschlechtern oder das Implantat unbrauchbar machen. Neue Materialien wie Graphen oder flexible polymere Elektroden sollen dieses Problem mildern, da sie weicher und verträglicher sind als herkömmliche Metalle. Graphen-Chips etwa können so dünn wie eine Atomlage gefertigt werden und passen sich dem Hirngewebe quasi wie eine Folie an, was Abstoßungsreaktionen minimieren könnte. Zudem bieten sie eine sehr hohe elektrische Leitfähigkeit, Auflösung und benötigen wenig Energie. Dennoch muss sich erst in Langzeitstudien zeigen, ob solche neuen Materialien tatsächlich jahrelang im menschlichen Gehirn funktionieren.

Haltbarkeit und Sicherheit: Ein Implantat muss über viele Jahre zuverlässig arbeiten, ohne zu versagen. Aktuelle Elektroden können im tierischen Gehirn oft nur wenige Jahre Daten auslesen, bevor sie degradieren. Die Verkabelung und Stromversorgung stellen ebenfalls Herausforderungen dar. Drahtlose Systeme wie Neuralink benötigen implantierte Batterien oder Induktionsladesysteme unter der Haut – dies muss so gestaltet sein, dass keine Hitze entsteht und kein Infektionsrisiko durch Ladeanschlüsse auftritt. Jede Operation am Gehirn birgt Risiken; idealerweise sollte ein Chip ein ganzes Patientenleben lang halten, um wiederholte neurochirurgische Eingriffe zu vermeiden. Daher arbeiten Entwickler an Methoden, die Lebensdauer der Implantate zu verlängern und Updates möglichst ohne erneute Operation zu ermöglichen.

Signalverarbeitung und Komplexität des Gehirns: Das menschliche Gehirn ist extrem komplex, mit rund 86 Milliarden Neuronen. Ein Hauptproblem ist, aus den aufgezeichneten Signalen sinnvolle Informationen zu extrahieren. Bisher können Implantate nur kleine Ausschnitte der neuronalen Aktivität abgreifen. Selbst Systeme mit tausend Elektroden erfassen nur einen winzigen Bruchteil des Gehirns. Die Dekodierung von Gedanken – also aus einem bestimmten Aktivitätsmuster die Intention oder Vorstellung abzulesen – erfordert leistungsfähige Algorithmen und maschinelles Lernen. Erste Ansätze erkennen einfache Bewegungsabsichten oder Buchstaben, aber feinere Details (etwa komplexe Sprache oder Erinnerungen) sind viel schwerer zu entschlüsseln. Hier besteht ein großer technischer Entwicklungsbedarf, um die Genauigkeit und Bandbreite der Gehirn-Auswertung zu erhöhen. Gelingt dies, könnten BCIs deutlich mehr leisten, etwa flüssigere Kommunikation in ganzen Sätzen ermöglichen.

Chirurgische Verfahren: Nicht zuletzt muss die Implantation selbst verbessert werden. Neuralinks Team hat z.B. spezielle Robotersysteme entwickelt, um die ultrafeinen Elektroden präzise ins Gehirn zu setzen, da kein menschlicher Chirurg so genau arbeiten kann. Solche Operationen dürfen keine relevanten Blutgefäße verletzen und müssen das Risiko für den Patienten minimieren. Minimalinvasive Ansätze (wie über Blutgefäße bei Synchron) verringern das Operationsrisiko, liefern aber eventuell weniger präzise Signale, da die Elektroden das Gehirn nicht direkt berühren. Es gilt also, einen Balanceakt zu meistern zwischen Invasivität und Signalqualität. Ebenso muss verhindert werden, dass die Implantate verrutschen oder sich durch Bewegungen im Kopf lockern. Die Fixierung, Abdichtung und eventuelle Entfernbarkeit der Chips sind technisch knifflig.

Diese Herausforderungen erklären, warum trotz großer Versprechen noch keine massenhafte Anwendung der Gehirnchips erfolgt ist. Viele Komponenten müssen perfekt zusammenspielen, und die Sicherheit der Patienten hat oberste Priorität. Experten schätzen, dass es noch einige Jahre intensiver Forschung und Entwicklung bedarf, bis solche Implantate routinemäßig zugelassen und eingesetzt werden – konservative Stimmen sprechen von mindestens einem Jahrzehnt.

Ethische Aspekte

Neben den technischen Fragen werfen Gehirnchips tiefgreifende ethische und gesellschaftliche Fragen auf. Ein Implantat, das direkt mit dem Gehirn verbunden ist, berührt grundlegende Prinzipien von Autonomie, Identität und Privatheit. Wichtig ist vor allem die Gedanken- und Datenhoheit des Individuums: Die im Hirnchip erfassten neuronalen Daten sind höchst persönlich. Könnten diese Daten ohne Zustimmung ausgelesen oder manipuliert werden, wäre die geistige Privatsphäre bedroht. Datenschutz und IT-Sicherheit sind daher essenzielle Anforderungen – es darf nicht sein, dass etwa Hacker oder Unternehmen Zugang zu den Gedankenströmen eines Menschen erhalten. Erste Diskussionen über spezielle “Neurorights” (geistige Grundrechte in Zeiten von Neurotech) haben bereits begonnen, um das Recht auf kognitive Freiheit und mentale Privatsphäre zu schützen.

Veränderung der Persönlichkeit und des Selbstverständnisses: Hirnimplantate, insbesondere wenn sie Signale zurück ins Gehirn spielen, könnten die Empfindungen oder Entscheidungen einer Person beeinflussen. Wenn etwa ein Algorithmus im Chip automatisch Emotionen dämpft oder verstärkt, stellt sich die Frage: Wie frei ist der Wille des Trägers noch? Einige Patienten berichten, dass ein Implantat “ein Teil von einem selbst” wird und man sich daran gewöhnt, als wäre es ein zusätzliches Organ. Dieser Integrationsprozess kann positiv sein (etwa bei der Epilepsie-Patientin, für die der Warnton ihres Neuro-Implantats zur Normalität wurde und ihr Leben bereichert hat). Dennoch müssen wir gesellschaftlich diskutieren, wo die Grenze zwischen Mensch und Maschine verläuft. Wenn ein Chip im Kopf die Stimmung reguliert oder Informationen ins Gehirn einspeist, bleibt die Handlung dann die eigene – oder die eines Geräts? Solche Fragen nach dem Erhalt der Persönlichkeit, der Authentizität von Gefühlen und Handlungen beschäftigen die Neuroethik intensiv.

Eingriffe und “Enhancement”: Aktuell richten sich Gehirnchips auf therapeutische Zwecke, also die Behandlung Kranker. Doch einige Unternehmen – allen voran Neuralink – verkünden offen, langfristig auch “Human Enhancement” anstreben zu wollen, also die Steigerung menschlicher Fähigkeiten über das Normalmaß hinaus. Musk etwa malt die Vision, dass gesunde Menschen eines Tages per Chip direkt auf das Internet zugreifen, telepathisch miteinander kommunizieren oder Erinnerungen digital aufzeichnen könnten. Diese Ideen werfen heikle ethische Fragen auf: Sollten solche Eingriffe erlaubt sein, und wer hätte Zugang dazu? Es besteht die Sorge, dass sich neue gesellschaftliche Ungleichheiten auftun – etwa zwischen “augmentierten” Menschen mit teuren Implantaten und denen ohne. Auch könnte der Druck entstehen, sich verbessern zu müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Grat zwischen Therapie und Enhancement muss sorgfältig bewacht werden, damit medizinische Notwendigkeiten priorisiert bleiben und keine zweckentfremdete Nutzung ohne breiten gesellschaftlichen Konsens erfolgt.

Regulierung und Verantwortung: Angesichts dieser Herausforderungen fordern Fachleute mehr Transparenz und Kontrolle in der Neurotech-Branche. Bei klinischen Studien an Universitäten existieren strenge Ethikkommissionen – vergleichbare Ethik-Richtlinien sollten auch für private Firmen gelten. Einige Konkurrenten von Neuralink haben bereits interne Ethikräte eingerichtet. Solche Gremien könnten sicherstellen, dass Tierversuche, Tests an Menschen und zukünftige Anwendungen ethisch vertretbar gestaltet sind. Zudem müssen rechtliche Rahmen geschaffen werden: Wem “gehört” ein implantierter Chip und die darauf laufende Software? Juristen argumentieren, dass ein fest im Körper integriertes Implantat wie ein Teil des Körpers behandelt werden sollte – das heißt, der Träger muss letztendlich die Kontrolle darüber haben, ähnlich wie niemand Eigentum an einem Organ im Körper einer Person haben kann. Hersteller könnten also Eigentumsrechte am implantierten Gerät und Code verlieren zugunsten der Patienten. Auch Fragen der Haftung sind wichtig: Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Hirnchip falsche Impulse gibt oder gehackt wird? Schließlich berührt diese Technologie Grundrechte – etwa das Recht auf Gedankenfreiheit. Gesetzgeber weltweit beginnen sich damit zu beschäftigen; so hat z.B. Chile als erstes Land den Schutz der geistigen Integrität explizit in seine Verfassung aufgenommen. Hier entsteht ein neues Feld von Vorschriften, um die Würde und Sicherheit des Menschen in der Ära der Neuroimplantate zu bewahren.

Prognose: Die nächsten zehn Jahre

Die kommenden zehn Jahre dürften für Gehirnchips und Neuroimplantate entscheidend sein. Viele Experten erwarten durchbruchartige Entwicklungen in diesem Zeitraum. Kurzfristig ist zu erwarten, dass die bestehenden Projekte ihre Machbarkeit in klinischen Studien unter Beweis stellen. So könnte es innerhalb der nächsten Dekade die ersten zugelassenen BCIs für gelähmte Patienten geben, die es erlauben, Computer durch Gedanken zu bedienen. Patienten mit hohen Querschnittslähmungen könnten dann im Alltag wieder kommunizieren, E-Mails schreiben oder technische Geräte steuern – allein über ein Implantat. Ebenso realistisch ist, dass die nächste Generation von Hirnschrittmachern für Parkinson und Epilepsie auf den Markt kommt. Diese Geräte würden nicht mehr nur konstant stimulieren, sondern adaptiv arbeiten: Sie messen die Hirnaktivität in Echtzeit und passen die Stimulation dynamisch an, um Symptome optimal zu kontrollieren. Erste Prototypen (z.B. auf Graphen-Basis) sollen in den 2020er Jahren erprobt werden und könnten bis 2030 marktreif sein, falls die Studien erfolgreich verlaufen.

In zehn Jahren könnten auch Sinnes-BCIs deutlich weiter sein. Möglicherweise stehen visuelle Hirnimplantate kurz vor der Zulassung, die blinden Menschen ein einfaches Sehen erlauben – etwa das Erkennen von großen Objekten oder Kontrasten, um sich besser orientieren zu können. Gleiches gilt für Hör-Implantate im Hirnstamm. Diese Fortschritte werden jedoch wahrscheinlich zunächst nur speziellen Patientengruppen zugutekommen und noch kein volles Ersatzsehen oder -hören bieten. Dennoch wäre bereits ein begrenzter Seh- oder Hörgewinn für Betroffene enorm wertvoll.

Ein Bereich, der sich rasant entwickeln wird, ist die Signaldecodierung mittels Künstlicher Intelligenz. Durch maschinelles Lernen könnten BCIs immer mehr komplexe Muster aus dem Gehirn verstehen. In fünf bis zehn Jahren ist denkbar, dass Gedanken-zu-Text-Systeme so weit sind, dass ein geübter Nutzer praktisch in Echtzeit ganze Sätze denken und auf dem Bildschirm erscheinen lassen kann. Auch die Umwandlung von Gedanken in gesprochene Sprache über eine Computerstimme dürfte in diesem Horizont verfeinert werden, nachdem bereits jetzt Prototypen dies in Ansätzen zeigen. Damit käme man dem Ziel näher, gelähmten oder stummen Patienten eine natürliche Kommunikation zurückzugeben.

Miniaturisierung und Integration der Technik werden ebenfalls voranschreiten. Zukünftige Gehirnchips könnten noch kleiner, dünner und gleichzeitig leistungsfähiger sein. Eventuell lassen sie sich vollständig unter der Schädeldecke verstecken, ohne äußere Komponenten – was die sozialen Akzeptanz erhöhen würde, da Implantat-Träger äußerlich nicht mehr von Gesunden zu unterscheiden sind. Fortschritte in der Materialwissenschaft (z.B. bessere biokompatible Polymere oder Graphen-Elektroden) könnten die Nutzungsdauer der Implantate verlängern, sodass diese 10+ Jahre ohne Austausch funktionieren. Zudem dürften verbesserte chirurgische Techniken die Implantation sicherer und einfacher machen, eventuell sogar ambulant mit robotischer Assistenz.

Insgesamt ist zu erwarten, dass in zehn Jahren deutlich mehr Patienten von Hirnchips profitieren als heute, zumindest in spezialisierten medizinischen Zentren. Einige Technologien könnten den Sprung von Einzelfall-Experimenten hin zu regulären Therapien schaffen (z.B. BCI-Kommunikation für Querschnittgelähmte). Die Vision von echten Mensch-Maschine-Interfaces rückt näher – allerdings wohl primär im medizinischen Kontext. Es ist unwahrscheinlich, dass gesunde Menschen bis 2035 massenhaft Brain-Computer-Interfaces zur Leistungssteigerung tragen. Vielmehr wird der Fokus zunächst darauf liegen, Leiden zu lindern. Jedoch könnten die Erfolge in der Klinik die Tür einen Spalt öffnen für breitere Diskussionen über nicht-medizinische Anwendungen. Gesellschaft und Gesetzgeber werden mit der Technik Schritt halten müssen, um Chancen zu nutzen und Risiken einzuhegen.

Quellen

  1. Tagesschau.de: Musk-Firma implantiert Gehirnchip beim Menschen (30.01.2024) – Bericht über Neuralinks erste Implantation bei einem querschnittsgelähmten Patienten und Einordnung durch Experten.
  2. WDR Nachrichten: Computerchip im Hirn: Was Implantate können und was nicht (31.01.2024) – Überblick über aktuelle Entwicklungen in der Hirn-Computer-Technik, andere Firmen (Synchron, Clinatec, Onward) und Risiken der Implantate.
  3. ZDFheute: Chip im Gehirn – Patient steuert Schachfiguren mit Gedanken (FAQ, 21.03.2024) – Erläuterung der Funktionsweise von Neuralinks Chip, Anwendungen und Visionen sowie realistischer Einordnung des Potenzials.
  4. WDR Nachrichten: Dank Hirn-Implantaten: Querschnittgelähmter kann nach zwölf Jahren wieder gehen (25.05.2023) – Meldung über den Fall Gert-Jan Oskam, der durch gekoppelte Gehirn- und Rückenmarks-Implantate wieder laufen lernte.
  5. Europäische Investitionsbank (EIB): Hirnimplantate aus Graphen eröffnen neue Chancen zur Behandlung neurologischer Erkrankungen (Story auf eib.org, 2022) – Vorstellung des Start-ups INBRAIN und der Vorteile von Graphen-basierten Neurochips für z.B. Parkinson und Kommunikationsschnittstellen.
  6. BR24 – Bayerischer Rundfunk: Chip im Hirn: Können Hirn-Implantate Patienten helfen? (5.02.2024) – Radiobeitrag und Artikel mit Einschätzungen von Neuroethikern zu den Möglichkeiten und Grenzen von Hirnchips, inklusive Forderung nach Ethik-Kommissionen und Hinweis auf bestehende Therapien (Parkinson-THS, Epilepsiewarnsysteme).