Fibromyalgie: Neuropathische und zentralnervöse Mechanismen
Fibromyalgie wird heute als Ergebnis einer veränderten Schmerzverarbeitung sowohl im zentralen als auch peripheren Nervensystem betrachtet. Zentrale Sensitivierung gilt als Schlüsselfaktor: Das zentrale Nervensystem reagiert überempfindlich auf Reize und moduliert Schmerzsignale unzureichend. Funktionelle und strukturelle Veränderungen im Gehirn von Fibromyalgie-Patienten (etwa in Schmerzverarbeitungsarealen) sowie eine gestörte absteigende Schmerzhemmung wurden nachgewiesen. Gleichzeitig zeigen sich periphere neuronale Auffälligkeiten: So findet man bei etwa 50% der Frauen mit Fibromyalgie eine verminderte Hautnervenfaserdichte, insbesondere der kleinen schmerzleitenden Fasern. Messungen an diesen C-Fasern ergaben eine erhöhte Spontanaktivität und Übererregbarkeit, was auf eine periphere Mitbeteiligung hinweist. Interessanterweise korreliert ein stärkerer Verlust an Nervenfasern (sowohl distal als auch proximal) mit einer höheren Symptomschwere und deutlicheren zentralnervösen Veränderungen (z. B. im MRT). Offen ist noch, ob die zentralen oder peripheren Veränderungen zuerst auftreten – vermutlich bedingen sie sich wechselseitig.

Abb.: Schematische Darstellung der vorgeschlagenen Pathophysiologie der Fibromyalgie. Genetische und Umweltfaktoren begünstigen eine zentrale Sensitivierung, die im Zusammenspiel mit peripheren Faktoren und autonomer Dysfunktion einen Teufelskreis der Schmerzauslösung und -aufrechterhaltung bildet.
Entzündungsprozesse und immunologische Aspekte
Obwohl Fibromyalgie keine klassische Entzündungskrankheit ist, rücken immunologische Mechanismen in den Fokus neuer Forschungen. In einigen Studien wurden veränderte Zytokinspiegel gefunden – z. B. proinflammatorische Botenstoffe wie Interleukine – allerdings ohne ein einheitliches Muster. Ein wegweisender Befund ist die mögliche Beteiligung von Autoantikörpern: 2021 zeigte eine Studie, dass Immunglobulin G (IgG) aus dem Blut von Fibromyalgie-Patientinnen bei Mäusen fibromyalgieartige Symptome auslösen kann. Überträgt man den Mäusen das IgG erkrankter Personen, entwickeln diese eine ausgeprägte Schmerzempfindlichkeit gegenüber mechanischen und kalten Reizen, eine reduzierte Muskelkraft und einen Verlust epidermaler Nervenfasern – während IgG von Gesunden keine Effekte zeigt. Diese Ergebnisse deuten auf einen autoimmunen Aspekt der Fibromyalgie hin und legen nahe, dass therapieseitig eine Reduktion pathogener Antikörper (etwa durch Plasmaaustausch) sinnvoll sein könnte. Insgesamt wird vermutet, dass dauerhafte geringe Entzündungsprozesse (beispielsweise durch aktivierte Gliazellen im Zentralnervensystem) zur chronischen Schmerzverstärkung beitragen, obwohl klassische Entzündungszeichen oft fehlen.
Genetische und epigenetische Faktoren
Fibromyalgie entsteht vermutlich durch ein komplexes Zusammenspiel von Erbanlagen und Umwelt. Einzelne Gene konnten zwar nicht als alleinige Ursache identifiziert werden, doch bestimmte Genvarianten scheinen die Anfälligkeit zu erhöhen. Beispielsweise wurden Polymorphismen in Genen des Katecholamin- und Serotoninstoffwechsels, in Schmerzverarbeitungs-Genen sowie in solchen der oxidativen Stressantwort und Immunregulation mit Fibromyalgie in Verbindung gebracht. Solche Varianten (etwa im COMT-Gen oder Serotonin-Rezeptor-Gen 5-HT2A) können die Schmerzempfindlichkeit beeinflussen und damit das Risiko und die Symptomschwere modulieren. Epigenetische Veränderungen spielen ebenfalls eine Rolle: Studien zeigen bei Fibromyalgie-Patienten veränderte DNA-Methylierungsmuster in bestimmten Genregionen. So fand man z. B. Abweichungen in Genen wie GCSAML und GRM2, die nach aktuellem Kenntnisstand mit dem Immunsystem, entzündlichen Reaktionen und zentraler Schmerzsensitivierung zu tun haben. Interessanterweise war in einer Untersuchung eine erhöhte Methylierung im GRM2-Gen mit einem geringeren Fibromyalgie-Risiko assoziiert, was auf eine schützende epigenetische Anpassung hindeuten könnte. Darüber hinaus werden MicroRNAs untersucht, da bestimmte MicroRNA-Profile bei Fibromyalgie-Patienten die Expression schmerzwichtiger Proteine beeinflussen und so Symptome verstärken könnten. Insgesamt untermauern genetische und epigenetische Befunde, dass die Erkrankung auf einer genetischen Veranlagung beruht, die durch Umweltfaktoren „angeschaltet“ oder moduliert werden kann.
Rolle von Stress und Umweltfaktoren
Stress – sowohl physisch als auch psychisch – gilt als wichtiger Auslöser und Verstärker der Fibromyalgie. Viele Patienten berichten von traumatischen Ereignissen in ihrer Vorgeschichte, insbesondere in Kindheit und Jugend. Aktuelle Untersuchungen bestätigen einen auffälligen Zusammenhang: In einer Studie hatten 84% der Fibromyalgie-Patientinnen mindestens ein Trauma erlebt, bevor ihre Schmerzen begannen. Häufig liegen Missbrauchserfahrungen (emotional, körperlich oder sexuell) oder andere schwere Belastungen vor, und über 70% erfüllten sogar die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Diese psychischen Traumata scheinen dauerhaft das Stressverarbeitungssystem zu verändern – insbesondere die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse). Typischerweise zeigt sich bei Fibromyalgie eine gestörte Cortisol-Regulation (oft niedrigere basale Cortisolspiegel und eine verminderte Stressantwort), was auf eine Dysfunktion der neuroendokrinen Stressachse hindeutet. Zusätzlich zu emotionalem Stress können auch körperliche Stressoren eine Rolle spielen: Verletzungen durch Unfälle (z. B. Autounfall, Schleudertrauma) oder bestimmte Infektionen (etwa Lyme-Borreliose oder andere schwere Infekte) wurden als mögliche Trigger für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndroms beschrieben. So steigt nach solchen Ereignissen bei vulnerablen Personen die Wahrscheinlichkeit, dass anhaltende Schmerzsyndrome wie Fibromyalgie auftreten. Umweltfaktoren im weiteren Sinne – etwa chronischer Schlafmangel, extreme körperliche oder seelische Belastungen, aber auch klimatische Einflüsse – können die Symptomatik verstärken. Insgesamt unterstreichen diese Erkenntnisse, dass Stress und Umweltreize über neurobiologische Veränderungen (z. B. langfristige Sensitivierung von Schmerzbahnen und Entgleisung der Stresshormonsysteme) wesentlich zur Pathophysiologie der Fibromyalgie beitragen.
Veränderungen im Neurotransmitter-Haushalt
Bei Fibromyalgie wurde ein Ungleichgewicht verschiedener Neurotransmitter festgestellt, die an Schmerzverarbeitung, Schlaf und Stimmung beteiligt sind. So finden sich im Liquor von Betroffenen deutlich erhöhte Konzentrationen exzitatorischer Botenstoffe wie Substanz P und Glutamat, die Schmerzsignale verstärken. Substanz P – ein Neuropeptid, das Schmerzen über NK-1-Rezeptoren vermittelt – ist bei Fibromyalgie-Patienten bis zu dreifach erhöht nachgewiesen worden. Dieser Überschuss kann die Schmerzübertragung im Rückenmark anfachen und zu anhaltender Überempfindlichkeit führen. Gleichzeitig wurden erniedrigte Spiegel inhibitorischer Neurotransmitter wie Serotonin und Noradrenalin beobachtet. Diese Botenstoffe wirken normalerweise schmerzmodulierend (schmerzhemmend) im zentralen Nervensystem; ihre relative Verknappung passt zu der verminderten Schmerzhemmung, die bei Fibromyalgie vorliegt. Auch das Dopamin-System scheint beeinträchtigt: Es gibt Hinweise auf eine gestörte dopaminerge Neurotransmission, was mit Symptomen wie gestörter Belohnungsverarbeitung, Fatigue und Antriebslosigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Insgesamt ergibt sich das Bild einer chemischen Imbalance, bei der schmerzfördernde Mechanismen überwiegen und schützende, schmerzhemmende Mechanismen abgeschwächt sind. Diese neurochemischen Veränderungen tragen zur zentralen Sensitivierung und den vielfältigen Symptomen (Schmerz, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen) des Fibromyalgie-Syndroms bei.
Quellen:
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